Für Christoph Jentzsch dreht sich vieles um die Gefahr, die von einem einzelnen Menschen mit Macht ausgeht: Ob US-Präsident Donald Trump, EZB-Präsident Mario Draghi oder Deutsche-Bank-CEO John Cryan. Wo immer ein einzelner Mensch so viel Macht auf sich vereint, steigt die mathematische Wahrscheinlichkeit des Scheiterns immens.
„Single Point of Failure“ nennt er das, was auf Deutsch in etwa „Einzelne Stelle des Scheiterns“ bedeutet. Auch wenn die gesamte US-Wirtschaft, die Eurozone oder die Deutsche-Bank-Belegschaft gut arbeiten, kann eine falsche Entscheidung ihrer Chefs fatale Folgen für alle haben.
Christoph beschäftigt sich schon lange mit dezentralen Systemen. „Ich liebe selbstorganisierte Systeme, die nur lokal organisiert sind, aber global funktionieren.“
Ihn interessiert, wie sich die Macht auf möglichst viele Schultern verteilen lässt, damit der „Single Point of Failure“ eliminiert werden kann. Denn er weiß: am Ende ist es oft der „Störfaktor Mensch“, der zum Scheitern führt.
Zu dieser Zeit forscht Christoph noch am Leibniz-Institut für Polymerforschung in Dresden. Sein Fachgebiet ist die Theoretische Physik und er plant, seine Dissertation zu beenden und dann eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Doch es soll alles ganz anders kommen.
Seit einiger Zeit verfolgt er die Entwicklung kryptografischer Währungen, insbesondere die von Bitcoin. Er ist fasziniert von der Idee einer dezentralen, digitalen Währung, die von keiner Zentralbank und keinem Staat kontrolliert wird. Schnell erkennt er das ungeheure Potenzial der dahinterliegenden Technologie Blockchain. Er denkt, sie könne der Idee der Dezentralisierung, auf der einst auch das Internet aufgebaut wurde, neuen Aufwind geben.
Christoph merkt bald, dass ihn eine Arbeit in dieser Branche deutlich mehr reizt als eine Laufbahn an der Universität. Schon seit 2012 arbeitet er nebenher als freiberuflicher Software-Entwickler. Ende 2014 tauscht er seine Doktorandenstelle dann endgültig gegen die Selbstständigkeit ein.
Während seiner Zeit an der Universität hat er diverse Programmiersprachen erlernt – Knowhow, das auf dem freien Markt heiß begehrt ist. Die Entscheidung fällt ihm nicht schwer: „Ich bin sehr risikobereit und sehe eher die Chancen als nur die Risiken. Aber Geld war auch eine Motivation, denn Wissenschaft ist schlecht bezahlt.“
Damals erfährt er auch vom Blockchain-Projekt Ethereum, das noch einen Schritt weiter gehen will als Bitcoin. Statt eine reine Digitalwährung zu sein, will Ethereum sogenannte „Smart Contracts“ etablieren. Das sind digitale Verträge, die auf einfachen „Wenn-Dann“-Beziehungen basieren und so das Potenzial besitzen, viele Verwaltungsaufgaben zu automatisieren. Christoph entscheidet sich, seine gesamte Zeit als Software-Tester für Ethereum zu arbeiten.
Dadurch sammelt er wertvolles Wissen über die Blockchain und lernt Ethereum-Gründer Vitalik Buterin persönlich kennen.
Im November 2015 gründet Christoph Jentzsch zusammen mit seinem Bruder Simon, ebenfalls Software-Entwickler, und Stephan Tual, dem ehemaligen CCO von Ethereum, das Unternehmen slock.it. Die Idee dahinter ist, die Blockchain-Technologie aus der digitalen Welt zu holen und sie mit der physischen Welt zu verknüpfen.
Über intelligente Schlösser, sogenannte Slocks, können Gegenstände, Fahrzeuge oder Immobilien auf der Plattform vermietet, verkauft oder mit anderen geteilt werden.
Möglich machen es die „Smart Contracts“: Sobald ein vorher festgelegter Geldbetrag bezahlt wurde, öffnet sich das Schloss automatisch. Slock.it verbindet dabei Ansätze des Internet of Things (IoT) mit der Blockchain, denn die Idee lässt sich nur auf „smarte“ Gegenstände anwenden, also solche, die mit dem Internet verbunden sind.
Was den drei Gründern nun noch fehlt, um ihre Idee im großen Maßstab umzusetzen, ist das nötige Startkapital. Doch auf klassisches Wagniskapital wollen die Gründer nicht setzen. Stattdessen wollen sie auch bei der Kapitalsuche auf ein dezentrales Fundament bauen.
Christoph erinnert sich an eine Idee, die Vitalik Buterin ihm einmal erzählt hat. Inspiriert von einer Science-Fiction-Geschichte kam Buterin vor Jahren der Gedanke, dass es technisch möglich sein müsste, eine dezentrale Organisation zu erschaffen.
Auch ein Unternehmen, so argumentierte der Ethereum-Gründer, bestehe am Ende nur aus Menschen, die Tätigkeiten ausführen, die zuvor in Verträgen festgelegt wurden. Das gehe vom einfachen Mitarbeiter, der seinen Arbeitsvertrag umsetzt, bis hoch zum Top-Manager, der Vertragsverpflichtungen gegenüber Aufsichtsrat und Investoren erfülle.
Warum soll man mit Smart Contracts nicht auch ein Unternehmen dezentral aufstellen können? Statt wie bisher starre hierarchische Strukturen zu etablieren, ließe sich mit Smart Contracts eine plutokratische Organisation schaffen, in der die Gruppe alles entscheidet.
Doch ein Unternehmen ohne menschliche Mitarbeiter, das dennoch über ein operatives Geschäft verfügt, gab es bisher noch nicht. Sogar der Economist widmete der revolutionären Idee einer dezentralen Firma ohne menschliches Management einen eigenen Artikel.
Die Firma wird auf den Namen „DAO“ getauft, eine Abkürzung für „Dezentrale Autonome Organisation“. Sie soll selbstständig Investmentmöglichkeiten ausfindig machen und den Gesellschaftern präsentieren. Die Idee hinter DAO lautet: Nicht mehr eine Handvoll mächtiger VC-Gesellschaften soll bestimmen, wohin sich Technologie entwickelt. Stattdessen soll eine elektronische, vollautomatische und dezentrale Organisation als Dachgesellschaft für Profit- und nicht-Profit-orientierte Firmen gleichermaßen sein.
„Wir wollten den Entscheidungsprozess dezentralisieren. Eine große Anzahl von Menschen entscheidet, nicht einer“, so Christoph. Die DAO müsse man sich als eine Firma mit über 15.000 Gründern vorstellen, erklärt Christoph. Eine Organisation mit einem Gemeinschaftskonto, bei dem die Mitglieder entscheiden, was sie mit dem Geld machen. Sie könnten es für wohltätige Zwecke einsetzen, Anteile von Firmen kaufen oder Firmen beauftragen, Produkte zu bauen und zu vermarkten.
Die DAO besteht nur aus sogenannten Smart Contracts und einem E-Voting-System. Bei diesem E-Voting-System kann jeder Investor seine Stimmrechte – anteilig an seiner Investitionssumme – dazu nutzen, um die Entscheidungen der DAO mitzubestimmen.
Der Zugriff von außen auf die Organisation ist nicht möglich. So soll verhindert werden, dass die DAO zerschlagen oder der Betrieb eingestellt wird. Nur wenn alle Investoren mehrheitlich die Einstellung des Geschäftsbetriebs bestimmen, wird die DAO geschlossen.
Christoph und seine zwei Mitstreiter wollen zuerst DAO ins Leben rufen und dann sollen die Gesellschafter der dezentralen Organisation entscheiden, ob auch slock.it von ihr Kapital erhält oder beauftragt wird. Sie verfassen das Konzept der DAO als Whitepaper und wollen Kapital für die Idee einsammeln.
Was nur als umständlicher Finanzierungsweg für slock.it startet, entwickelt schnell ein Eigenleben. Die DAO wird ein Riesenerfolg und bricht alle Crowdfunding-Rekorde.
„Wir hatten nicht mit dem Erfolg gerechnet. Am Anfang kam erstmal eine Million Dollar zusammen. Dann stieg dieser Betrag auf fünf Millionen Dollar. Das war schon ein bisschen beängstigend – eine so hohe Summe für solch einen experimentellen Smart Contract“, erinnert sich Christoph. „So ging es weiter: zehn Millionen, 30 Millionen, 50 Millionen, 100 Millionen Dollar. An diesem Punkt fühlte ich mich wirklich unwohl. Und dann sammelte diese dezentrale autonome Organisation ohne jegliches Management in vier Wochen 150 Millionen Dollar ein. Das war angsteinflößend.“
Aufgrund der DAO-Finanzierung steigt der Ether-Preis rasant an, was dazu führt, dass die DAO auf einmal über 220 Millionen Dollar verfügt. Doch bevor es richtig losgeht, wird die DAO von einem Skandal erschüttert. Ein unbekannter Hacker nutzt eine Sicherheitslücke im Code, um Gelder aus der DAO abzuzweigen. Insgesamt versucht er auf diese Weise 30 Millionen Dollar zu stehlen. Ein Wirtschaftskrimi „Made in Sachsen“.
Was folgt, sind chaotische Tage in der Ethereum-Community, die als „DAO-Kriege“ in die Geschichte eingehen. Weil die autonome Firma der Gebrüder Jentzsch auf der Ethereum-Blockchain basiert, hat der Vorfall signifikante Auswirkungen auf die ganze Kryptowährung.
Es geht nicht länger nur um die DAO, sondern um Ethereum. Die Community steht vor einer folgenschweren Wahl: Soll in die Blockchain eingegriffen werden – was als absolutes Tabubruch gilt – um den Diebstahl rückgängig zu machen? Oder bleibt die Ethereum-Blockchain unangetastet, zum Schaden aller?
Am Ende wird Ethereum in zwei Kryptowährungen aufgespalten: Ethereum und Ethereum Classic. Während der DAO-Hack in der ersten Variante rückgängig gemacht wurde, hat er bei der Classic-Variante stattgefunden. „Ich muss ganz bescheiden zugeben: wir sind zu weit gegangen und wir sind gescheitert“, gibt Christoph zu. Erst als die DAO-Anleger ihre Gelder zurückerhalten und kann er nach vielen stressigen Wochen endlich wieder durchatmen. Das heißt vorerst.
Die autonome Organisation der Gebrüder Jentzsch ruft am Ende sogar die US-Börsenaufsicht SEC auf den Plan. Diese nimmt die DAO als Präzedenzfall für die Regulierung von Initial Coin Offerings (ICOs). In einer öffentlichen Stellungnahme bewertet sie die DAO-Finanzierung als Wertpapierverkauf, der den gleichen Regeln unterläge wie herkömmliche Aktienverkäufe. Dabei habe es sich bei der DAO technisch gesehen nie um einen ICO gehandelt, so Christoph.
Wenn er könnte, würde Christoph Jentzsch heute etwas anders machen?
„Ja“, antwortet er und lacht. „Ich würde den Fehler aus dem Programmcode nehmen.“ Wie geht es nun für ihn weiter? Christoph, sein Bruder Simon und Mitgründer Stephan widmen ihre Zeit wieder voll der Entwicklung von slock.it. Sie konnten sich auch ohne die Unterstützung der DAO Seed-Funding in Höhe von zwei Millionen Dollar sichern und kürzlich auch erste Industriepartner wie Siemens und RWE für Partnerprojekte gewinnen.
Auch die Idee eines DAO will Christoph noch nicht aufgeben, im Gegenteil: „Die ersten Flugzeuge sind abgestürzt, aber Flugzeuge waren trotzdem eine ziemlich gute Idee und die Menschen haben weiter daran gearbeitet, bis sie sich durchgesetzt haben.“
Er arbeitet schon an einer dezentralen, autonomen Wohltätigkeitsorganisation, einer „Charity DAO“. Doch dieses Mal will er sich mehr Vorbereitungszeit lassen, denn der Programmierfehler, der zum großen DAO-Hack führte, sei letztlich unter Zeitdruck entstanden.
Doch solange der „Störfaktor Mensch“ noch Teil der Gleichung ist, sind Fehler wohl unvermeidbar.