Auf der Suche nach den Eigenschaften von Wegbereitern der Menschheit stößt man nicht nur auf Kreativität und Willenskraft, man entdeckt unbändige Leidenschaft, fesselnde Lebensgeschichten und teils wahnwitzige Vorstellungen. Wahnwitzig oder vielleicht nur der Zeit voraus?
Jacques-Yves Cousteau ist der wohl bedeutendste Taucher und Ozeanforscher des 20. Jahrhunderts. Das ist seine Geschichte:
Jacques, der Schlacksige wird 1910 in einer kleinen Stadt nahe Bordeaux geboren. Er hat, wie viele Jungen in seinem Alter, einen Traum: Den Traum vom Fliegen. Die Welt entdecken, ferne Länder besichtigen und in Gegenden gelangen, in die noch kein Mensch je vorgedrungen ist, daran denkt der aufgeweckte Junge, wenn er selbstvergessen vor sich hin starrt. Aber Jacques bleibt kein Träumer. Er geht zur Marine und wird Pilot.
Fast. Wenn da nicht der Autounfall von 1936 gewesen wäre, ein Unfall, der ihm zwölf Knochen brechen und sein Leben radikal verändern sollte. Plötzlich, unerwartet und brutal schlägt er in Jacques Leben ein wie ein Blitz.
Mit 26 Jahren blickt Jacques auf eine unveränderliche Tatsache zurück: Sein Traum ist zerplatzt und hinterlässt eine Leere, die einen Menschen wie ihn den Sinn kosten könnte. Der Arm soll ihm amputiert werden, denn die Sorge der Ärzte vor dem tödlichen Wundbrand ist zu groß. Doch der junge Franzose ist hart, weiß, was er will. Er hat noch so vieles vor, so vieles, was mit nur einem Arm in weite Ferne rückt. Jacques wehrt und windet sich und schließlich geben die Ärzte nach. Der Arm bleibt dran. Und er hat Glück: Er heilt schneller als die Lücke, die der Unfall in Jacques Leben riss.
Jacques, der Zähe, lässt sich aber auch von dieser Krise kein halbes Jahr unterkriegen. Alles was es braucht um seine Welt auf den Kopf zu stellen, ist ein Freund mit einer Unterwasserbrille. Jacques geht zum ersten Mal mit seinem Marinefreund und Sporttaucher Philippe Tailliez tauchen. Und das Meer nimmt ihm, dem als Kind wegen seiner Schmächtigkeit das Schwimmen verboten wurde, den Atem.
„Ich tauchte meinen Kopf unter, und die ganze Zivilisation schwand mit dieser einen Bewegung dahin. Ich war wie in einem Dschungel, der noch nie von all denen erblickt worden war, die sich auf der undurchsichtigen Erdoberfläche bewegten“, sagt er nach seinem ersten Tauchgang. Die Tiefe der Meere zwingt ihn mit einer unbändigen Kraft immer wieder in einen der schweren Taucheranzüge, die eher an Raumfahrtanzüge erinnern und die anzuziehen allein Stunden dauert. Starrsinnig, neugierig, unermüdlich experimentiert Jacques mit selbsterfundenen Atem-Apparaturen und verliert dabei ein ums andere Mal unter Wasser das Bewusstsein. Jacques, der Extreme, will selbst zum Fisch werden. Partout und unbedingt.
Die Weltpolitik kommt ihm dazwischen. Am 3. September 1939 erklärt Frankreich Deutschland den Krieg. Der Überfall Hitlers auf Polen hatte Frankreich und Großbritannien dazu veranlasst, die Politik des Abwartens aufzugeben. Der zweite Weltkrieg nimmt seinen Lauf. Cousteau, der noch immer Offizier bei der Marine ist und von der Aufklärungsabteilung mit Agentenmissionen in Japan, der Sowjetunion und Shanghai beauftragt wird, steigt zum Kapitän auf. Jacques, der Kommandant, unterstützt ab1940 die Résistance gegen die deutsche Besatzung. Zwischen den militärischen Einsätzen ist er weiterhin als Taucher auf Expeditionen im Mittelmeer unterwegs, erforscht Wracks und die Meeresgründe.
1942 beschließt Cousteau, seine Unterwassererfahrungen mit der Welt zu teilen. Er steckt eine Kamera in ein luftdichtes Einmachglas und dreht seinen ersten Unterwasserfilm „In 18 Metern Tiefe“.
Noch immer taucht Cousteau mit einer externen Luftversorgung. Auf dem Schiff, von dem die Taucher über Leitern ins Wasser steigen, muss ein anderer Mensch mit einer mechanischen Luftpumpe durch einen Schlauch Luft in den Taucheranzug pumpen. Das ist nicht nur gefährlich, sondern hindert den Taucher auch daran, sehr tief zu tauchen. Also holt Jaques sich mit Émile Gagnan einen Partner an die Seite, der sich mit industrieller Gastechnik auskennt. Zusammen entwickeln sie die Aqua-Lung, einen Atemregler, der in Flaschen komprimierte Luft dem Wasserdruck anpasst. Das Prinzip legt den Grundstein für modernes Tauchen und wird auch Hundert Jahre später noch genutzt werden. Cousteau entdeckt eine ganz neue Welt für sich. Jacques, der Visionär, ist kein Hobbytaucher. Jacques will ein Fisch sein. Er will unter Wasser leben. 1947 stellt er mit 91,5 Metern den Weltrekord im Freitauchen auf.
1950 stellt ihm Brauerei-Chef Thomas Loel Guiness ein ehemaliges Minensuchboot, die Calypso, zur Verfügung. Jacques lässt sie zur schwimmenden Forschungsstation umbauen, streicht sie weiß, trägt fortan immer eine rote Wollmütze und bereist die Weltmeere. Die Kamera begleitet ihn dabei, er dreht Filme wie noch keiner vor ihm, gewinnt schließlich sogar die Goldene Palme in Cannes und erreicht Weltruhm. Jacques, der Kauzige, ist dabei nicht immer korrekt. Man sagt, er setze Tintenfische unter Drogen, jage Delfine und Meeresschildkröten durchs Wasser und massakriere Wale als Hai-Köder. Alles für das Publikum, für faszinierende Bilder, die untermalt mit merkwürdigen Unterwasseratemstößen zuhause über die Bildschirme flimmern. Jacques ist berühmt, hin und wieder reich, aber immer noch kein Fisch.
Also entwirft er die tauchende Untertasse – nicht weniger als ein bewohnbares Aquarium. 1964 sinkt es ins Rote Meer, an Bord Cousteau und sein Sohn Philippe. Jacques raucht und trinkt Champagner, während die Untertasse klimatisiert und beleuchtet immer tiefer schwebt. Im Rausch der Meere atmet Jacques die Tiefe. Er will diese Erfahrung für alle Menschen möglich machen, das Kontinentalschelf besiedeln. Dafür lässt er Unterwasserhäuser bauen. 1962 wird das erste Unterwasser-Haus unter dem Namen „Conshelf I“ 10 Meter tief ins Meer vor Marseille versenkt. Eine Woche leben die beiden Taucher Albert Falco und Claude Wesly in einem merkwürdig aussehenden Zylinder im Meer. Sie sind die ersten „Ozeanauten“ der Welt.
Während sich das Wettrennen zum Mond im Laufe des Kalten Krieges zuspitzt, fragt sich eine andere Gruppe von Forschern, ob der Mensch nicht auch die Weltmeere besiedeln könnte. Ein Vorhaben, das viel günstiger wäre als die Eroberung des Weltalls als menschlicher Lebensraum. Jacques, der Tüftler, will das Leben unter Wasser möglich machen. Nur ein Jahr später folgt das „Conshelf II“, ein schon etwas wohnlicheres Haus, indem fünf Ozeanauten für vier Wochen leben. Später wird das Seestern-förmige Objekt auf 25 Meter Tiefe gebracht, zwei Menschen leben hier zwei Wochen lang. 1965 folgt die dritte Stufe des Projekts. Nun leben sechs Ozeanauten für drei Wochen einhundert Meter unter der Wasseroberfläche.
Obwohl Jacques beweist, dass Menschen unter Wasser leben können, stellt er fest, dass sie nicht dafür gemacht sind, ein Leben lang ohne Sonne auszukommen.
Jacques taucht, schwimmt, filmt. Er schreibt Bücher und verbringt seine Zeit auf der Calypso. Mit seinem Sohn Philippe bereist er die Welt. Er streitet mit ihm über seine außerehelichen Affären, die Umwelt und die Behandlung von Tieren. Bis zu dem Tag, an dem Philippe 1979 mit einem Wasserflugzeug abstürzt und stirbt.
Jacques, der Verirrte, schwimmt nach französischen Atomtests im Mururoa-Atoll im Meer, um zu beweisen, dass Atomwaffen harmlos sind. Doch lange Zeit bleibt das Verschwinden vieler seiner geliebten Fischarten ihm nicht verborgen. Er erkennt die Zerstörungskraft des Menschen und seiner Waffen. So wird er zum zweiten Mal in seinem Leben ein anderer Mensch, setzt sich fortan mit der Cousteau Society für den Schutz der Meere ein. 1996 sinkt die Calypso nach einer Kollision vor Singapur. Ein Jahr später stirbt Jacques Cousteau der Zähe, der Extreme, der Streitbare und kauzige Tüftler in Paris.
Was bis heute bleibt sind über einhundert Filme der Unterwasserwelt und viele verschiedene Facetten eines Pioniers der Meere. Jacques Cousteau machte die Tiefen der Meere für Menschen zugänglich, brachte die Ozeane und ihre Lebewesen ins Bewusstsein und ins Wohnzimmer von Millionen Menschen. Er eröffnete die Möglichkeit, die Meere zu besiedeln und bewies ein ums andere Mal, dass es einen Weg gibt, wenn der Wille nur groß genug ist.
Man muss ihn nur (er)finden.