Es ist Sommer. Ein schlankes, beinahe dünnes Mädchen steigt aus dem Auto. Die lackierte Autotür fällt knackend zurück ins Schloss. Der Rucksack auf dem Rücken des Mädchens überragt es beinahe und sein Gewicht lässt es etwas nach vorn gebeugt laufen. Die Haare sind kurz, doch der blonde Pony fällt dem Mädchen immer wieder ins Gesicht. Überall laufen Kinder herum, manche verabschieden sich weinend von ihrer Familie, die meistens aber haben ihre Taschen irgendwo hingeschmissen und schon die ersten Freundschaften geschlossen.
Eileen Collins ist gerade im Sommerferienlager am Harris Hill angekommen. Die aufgeweckten, leicht scheuen Augen sehen sich neugierig um. Grüne, weite Wiesen und Mischwälder bestimmen die Landschaft rund um den Hügel. Ihr Vater, ein ebenfalls großer, schlanker Mann, winkt noch einmal und steigt zurück in seinen alten Ford. Eileen winkt ebenfalls, dann springt sie davon. Seit ein paar Jahren lebt ihre Familie im Staat New York in einer Kleinstadt. Lange sind die Collins, eine sechsköpfige Familie, in einem staatlich finanzierten Hausprojekt zu Hause. Sie gehören der unteren Mittelklasse an und können sich kein teures Ferienlager leisten. Aber in diesem Jahr kann Eileen hier sein und zwischen Zelten und Lagerfeuern auf Schatzsuche gehen.
Links vom Camp liegt ein Flugplatz für Segelflieger und Kleinflugzeuge. Während Eileen und ein paar andere Viertklässler in der Sonne spielen, gleiten über ihnen fast lautlos die weißen Schwingen der Segelflieger hinweg. Eileen kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Diese Schwerelosigkeit, die Freiheit. Wie das wohl ist, zu fliegen?
Sonnengebräunt und sommersprossig sitzt die junge Dame wenig später wieder im alten Ford. Statt wehmütig an der Heckscheibe zu kleben und dem Camp nachzutrauern, ist Eileen jedoch aufgeregt und bittet darum, die Bibliothek zu besuchen. Da ihre Mutter die Kinder sowieso oft dort hinbringt, verbringt Eileen viel Zeit zwischen den Büchern und verschlingt alles zum Thema Fliegen. Sie liest von männlichen und weiblichen Piloten, von Flugzeugtypen und Maschinen. Sie will das Fliegen lernen.
Da ihre Eltern weit entfernt davon sind, Flugstunden für ihre Tochter bezahlen zu können, nimmt Eileen, inzwischen 16 Jahre alt und inzwischen ein ziemlicher Flug-Nerd, alle Nebenjobs an, die sie bekommen kann. Sie arbeitet auf einem Golfplatz, in ihrer Kirche, in einem Restaurant, einem Krankenhaus. Drei Jahre später ist sie die stolze Besitzerin von 1000 US-Dollar. Damals, während der 60er und 70er Jahre, eine Riesensumme. Von dem Geld nimmt sie ihre ersten Flugstunden.
Vormittags studiert sie mithilfe von Zuschüssen und Krediten am Corning Community College Mathematik und Naturwissenschaften, die Nachmittage verbringt sie auf dem Flugplatz. 1974 wechselt sie an die Syracuse University, tritt 1976 der US-Luftwaffe bei und schließt den Bachelor in Mathematik und Wirtschaft ab. Ihr Studentenleben ist anders als das der anderen Studenten. Sie bewirbt sich für das Undergraduate Piloten-Training in Oklahoma und wird als eine von vier Frauen und insgesamt 320 Flugschülern an der Vance Air Force Basis angenommen. Es ist überhaupt das erste Jahr, in dem die Air Force auch weibliche Bewerberinnen zulässt.
Als Eileen an ihrem ersten Tag das Gelände betritt, sind die Menschen dort nicht gewöhnt, Frauen in Fluganzügen zu sehen. Sie sehen mich an wie Marsianer, denkt Eileen als sie ihre ersten Einkäufe auf das Fließband des kleinen Supermarktes legt. Die Kassiererin sieht sie skeptisch an. „Wissen Sie, die Ehefrauen wollen Sie hier nicht“, sagt sie. „Aha, warum nicht?“ fragt Eileen zurück. „Naja, sie wollen nicht, dass Sie mit ihren Ehemännern Grenzen überschreiten.“ Die Kassiererin zuckt die Schultern und Eileen bezahlt.
Eigentlich wollte sie hier ja nur fliegen. Stattdessen versucht sie, die Familien und Frauen der anderen kennenzulernen und nirgendwo anzuecken. Auf Feiern stellt sie sich nicht zu den männlichen Piloten und Ausbildern, um mit ihnen über Antriebe, Simulatoren oder Luftakrobatik zu sprechen, sondern spricht mit deren Frauen. Doch letztendlich macht sie ihren militärischen Flugschein und wird Ausbilderin auf T-38 Schulungsflugzeugen. Drei Jahre bleibt sie in Vance, freundet sich mit der Kassiererin an und fliegt viele Stunden. Dann wird sie nach Kalifornien versetzt, um Langstreckenflugzeuge zu befehligen und Piloten auszubilden.
Kalifornien hält allerdings mehr für Eileen bereit als die Befehligung von Langstreckenflugzeugen. Während sie in Vance noch die einzige ledige Frau unter hunderten frisch Verheirateten war, begegnet sie in der Fliegerstaffel der Travis Air Force Basis einem hochgewachsenen, blauäugigen Mann namens Patrick. Die beiden verlieben sich heftig. Irgendwie schafft Eileen es trotz dieser personifizierten Ablenkung, ihren Master in Arbeitsforschung an der Stanford University zu absolvieren.
Doch der Traum vom Fliegen ist Eileen noch nicht weit genug gedacht. Der Anblick von Segelfliegern weicht dem Anblick der Sterne. Weiter, viel weiter als nur an Flüge in der Erdatmosphäre denkt sie und bewirbt sich bei der NASA als Astronautin. Sie wird abgelehnt.
Also geht Eileen 1986 nach Colorado, an die U.S. Air Force Akademie. Ein Jahr später heiraten Pat und Eileen auf dem Fluggelände. Pat wird Pilot bei Delta Air Lines, Eileen arbeitet als Assistenzprofessorin für Mathematik und lässt sich als Testpilotin ausbilden. Sie ist die zweite Frau überhaupt, die das Programm besucht und abschließt. Um ihrem Traum vom Weltraumflug näher zu kommen, macht Eileen an der Webster University in Missouri ihren Master für Raumfahrtmanagement.
Ein Jahr später wird sie in das Astronautenprogramm der NASA aufgenommen und als Astronautin und Pilotin ausgewählt, um das Space Shuttle Discovery 1995 zur russischen Raumstation Mir zu fliegen. Sie ist die erste weibliche Pilotin des Space Shuttles. Und dann, knapp 400 Kilometer über der Erdoberfläche, 20 Jahre nach ihrem allerersten Flug, sitzt eine unendlich glückliche Frau in einem orangenen Anzug und lacht.
1997, auf ihrer dritten Mission, ist sie nicht mehr Pilotin, sondern Kommandantin. Sie verantwortet das Aussetzen des Chandra X-Ray Observatoriums. Und wieder – wie könnte es anders sein – schreibt sie Geschichte als erste weibliche Kommandantin eines U.S. Raumfahrtzeugs. Der Medienrummel um das Ereignis ist gigantisch. Hillary Clinton, Ehefrau des damaligen Präsidenten Bill Clinton, kündigt Eileen als Kommandantin an. Die Mission wird ein Erfolg.
Während die NASA um die Jahrtausendwende fast schon routiniert SpaceShuttles in den Weltraum schickt und auch die Zusammenarbeit mit der russischen Weltraumorganisation Roskosmos nach dem Kalten Krieg enger wird, vergessen die Menschen beinahe, wie riskant Reisen ins Weltall noch immer sind. Ein abruptes Ende setzt dem das Unglück der Raumfähre Columbia im Jahr 2003.
1998 begann der Bau der internationalen Raumstation ISS. Seit dem flogen SpaceShuttles mit Material und Bauteilen ins All, um die Station dort zusammenzusetzen. Die Columbia, das erste weltraumtaugliche und wiederverwendbare Space Shuttle der NASA, ist eines der wenigen Shuttles, das nicht dorthin fliegt, sondern wissenschaftliche Forschungen betreibt, bevor die ISS das übernehmen kann. 79 einzelne Experimente trägt die Mission mit sich.
Die Columbia macht sich auf den Heimweg. Plötzlich verlieren die Flugkontrolleure im Kennedy Space Center den Funkkontakt. Als auch das Radar die Fähre nicht mehr anzeigt, bricht Angst aus. 16 Minuten vor der planmäßigen Landung bricht die Weltraumfähre am Himmel über Texas plötzlich auseinander. Alle sieben Besatzungsmitglieder sterben.
Eileen ist gerade dabei, sich für ihren letzten Flug vorzubereiten. Das Unglück erschüttert sie. Nicht nur verliert sie sieben Freunde, das ganze Space-Shuttle-Programm steht mit einem Mal in der Kritik. Niemand weiß, was das Unglück verursacht hat. Eigentlich soll Eileens neue Mission in fünf Wochen starten. Doch es gilt, die Fehler des Columbia-Fluges aufzudecken und aus ihnen zu lernen.
Neun Monate später ist klar, dass sich ein Stück Isolierschaum aus dem Außentank gelöst hat und das Hitzeschutzsystem des Shuttles beeinträchtigte. Das Stück schlug ein Loch in die Vorderkante des linken Flügels. Beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre trat heißes Plasma in die Columbia ein und zerstörte sie. Eileen und die NASA-Mitarbeiter erkennen, dass die Shuttles sicherer werden müssen. Sie werden kreativ, bauen Modelle, spielen Kausalketten von Ereignissen immer wieder durch.
Im Juli 2005 ist es so weit: Die Discovery, eine 1983 gebaute Raumfähre, steht für die Mission mit dem Namen STS-114 bereit. Return to Flight – Rückkehr zum Flug ist das Ziel. Als erster Flug nach dem Unglück der Columbia schaut die ganze Welt auf Eileen und ihre Crew. Die Reise geht zur ISS, um weitere Bau- und Ersatzteile zu liefern. Vor allem aber sollten die neuen Sicherheitsmaßnahmen, die Lehren aus dem Unglück, getestet werden. Der Außentank wurde umgebautund die NASA-Ingenieure haben den Roboterarm (Orbital Boom Sensor System) weiterentwickelt. Damit soll der Hitzeschild der Raumfähre auf Schäden untersucht werden.
Eileen ist überzeugt, dass die Mission gelingt. Als Pat mit den beiden Kindern am Kennedy Space Center steht und die weiß-orangefarbene Fähre mit einem ohrenbetäubenden Raketenstart vom Boden abhebt, ist seine Nervosität größer als sonst. Schon zwei Mal wurde der Start verschoben, schon zwei Mal wegen technischer Defekte. Wenn diesmal bloß nichts schief geht…
Am ersten Tag starten die Astronauten alle Systeme, der Roboterarm wird in Betrieb genommen und alles überprüft. Nach der ersten Nacht im Weltraum untersuchen sie das Hitzeschild des Shuttles Zentimeter für Zentimeter. Die Stimmung ist angespannt, wieder hat sich beim Start ein Stück der Isolierung gelöst. Doch es sind keine Schäden erkennbar. Nach einem weiteren Tag im All ist die Discovery der ISS sehr nah. Eileen hat einen Auftrag: Sie soll das Shuttle 360Grad um die eigene Querachse drehen, sodass die Forscher auf der ISS die Discovery von allen Seiten fotografieren können. Heute wurden sie vom Louis Armstrongs „What a wonderful world“ geweckt. Eileen setzt eine entschlossene Miene auf.
Sie absolviert das Manöver ohne Probleme. Auf den Fotos werden keine gefährlichen Schäden erkannt. Alle atmen auf. Auch diese Mission wird zum Erfolg.
2011 wird das Space-Shuttle-Programm eingestellt.
Eileen jedoch kämpft auch heute noch für das Fliegen. „Die Erde durch Raumfahrt kennenzulernen, gibt der Menschheit die Chance, die Erde weiter kennenzulernen. "Wenn wir eines Tages wieder Menschen auf den Mond bringen wollen, müssen wir in die Raumfahrt investieren", sagt sie 2016.
Eileen ist seit 2006 als Astronautin in Rente und arbeitet auch nicht mehr für die NASA. Stattdessen reist sie durch das Land und spricht über Chancen, Möglichkeiten und den Traum vom Fliegen. Auch mit heute 61 Jahren hat sich für sie an diesem Traum nie etwas geändert.